Tina Maschmann in ZEIT Campus: „In einigen Fällen führt der Aufstieg zum Kontaktabbruch”
ZEIT Campus: „In einigen Fällen führt der Aufstieg zum Kontaktabbruch”
Interview: Paul Weinheimer
Wer den Bildungsaufstieg schafft, gewinnt an Einkommen. Und verliert oft die Familie. Die Soziologin Tina Maschmann erklärt, warum der Bruch auch helfen kann. Als Bildungsaufsteiger:in gilt, wer in einer Familie als Erstes studiert. Nur 27 von 100 Arbeiterkindern studieren, das ergeben Zahlen des Hochschulbildungsreports. Bei Kindern von Akademiker:innen sind es 79. Die Hürden sind hoch. Das liegt am Geld, an mangelnder Chancengleichheit und oft an weniger Unterstützung von Zuhause. Tina Maschmann ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet bei der Initiative ArbeiterKind. Aus ihrer Tätigkeit dort und aus ihrer Forschung weiß sie, dass Erstakdemiker:innen auf ihrem Bildungsweg in der Familie oft Konflikte aushalten müssen, in denen es um den Selbstwert der Eltern geht – aber auch um Geld.
ZEIT Campus: Was entscheidet darüber, ob ein Bildungsaufstieg klappt?
Tina Maschmann: Viele Menschen denken: Je mehr Förderung man von der Familie bekommt, desto höher sind die Chancen, dass ein Bildungsaufstieg gelingt. Aber das Gegenteil kann der Fall sein: Wer aufsteigen möchte, ist erfolgreicher, wenn er oder sie sich von der Familie entfernen will. Sogenannte ausstoßende Tendenzen können paradoxerweise ein beförderndes Kriterium sein.
ZEIT Campus: Wie meinen Sie das?
Maschmann: Wenn es in einer Familie viele Konflikte gibt, dann nehmen Menschen den Bildungsaufstieg häufig als Ausweg aus der eigenen Familie wahr. Damit ist die oft unbewusste Motivation, diesen zu schaffen, natürlich auch höher. Eine Bildungsaufsteigerin, die ich kennengelernt habe, kam aus einer Familie, in der es ein Alkoholproblem gab. Die Schule war ihr sicherer Ort, an dem sie kindgerecht behandelt wurde und Bezugspersonen hatte. Deshalb war sie sehr motiviert, zu lernen. Gleichzeitig musste sie zu Hause sehr früh Verantwortung für sich übernehmen und selbstständig sein. Diese Kompetenzen haben ihr später geholfen, ihr Studium zu meistern.
ZEIT Campus: Hat sie sich dann von ihrer Familie getrennt?
Maschmann: Ja, sie ist früh ausgezogen. Es kam zu einem Kontaktabbruch und dann zu einer Wiederannäherung im Erwachsenenalter. Wie wichtig die Herkunftsfamilie im Bildungsweg ist, zeigt sich auch bei der Berufswahl: Sie ist Ärztin geworden und hat mit Alkoholkranken gearbeitet.
ZEIT Campus: Wieso ist die Trennung von der Familie überhaupt notwendig?
Maschmann: Die Trennung ist nicht notwendig, aber ein Milieuwechsel hat immer etwas mit Trennung zu tun. Man lernt alternative Lebenswege kennen und kommt in ein neues soziales Umfeld. Das führt automatisch zu einer Entfremdung.
ZEIT Campus: Was meinen Sie mit Entfremdung?
Maschmann: Bildungsaufsteiger:innen verändern sich habituell. Die Sprache ändert sich, sie nutzen mehr Fremdwörter, vielleicht wird es für sie normal, Anzüge zu tragen – und sie lernen mehr von der Welt kennen. Der Geschmack ändert sich, die Ziele im Leben und die vielen kleinen Dinge, die einen Unterschied machen, wenn über soziale Herkunft gesprochen wird. Dadurch kommt es zu einer Entfernung, da das Kind immer weniger Überschneidungspunkte mit den Eltern hat. In einigen Fällen führt das zum Kontaktabbruch, weil Eltern und Kinder sich zu fremd geworden sind. Ob man wieder zusammenfindet, ist von der Offenheit der Familie gegenüber diesen Veränderungen abhängig.
„Oft werden die Vorwürfe nicht konkret ausgesprochen” – Tina Maschmann
ZEIT Campus: Sie beraten junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren. Von welchen Problemen berichten sie?
Maschmann: Viele sagen, dass sie sich als Außenseiter:in in der eigenen Familie wahrnehmen. Die Eltern haben häufig kein Verständnis für die Leistungen, die im Studium erbracht werden. Eine Klientin von mir musste dafür streiten, aufs Gymnasium zu gehen. Sie musste sich von ihren Eltern anhören: Du glaubst doch, dass du jetzt etwas Besseres bist. Viele fühlen sich auch im akademischen Umfeld fehl am Platz. Sie glauben, weniger zu wissen oder sich schlechter ausdrücken zu können. ZEIT Campus: Aber viele Eltern unterstützen ihre Kinder doch mit allem, was sie haben – auch, wenn sie nicht selbst studieren konnten. Inwiefern wird man dann zu Hause zum Außenseiter?
Maschmann: Wenn ein Kind aufsteigt, führt das immer zu einer Statusverschiebung innerhalb der Familie. Die Eltern hinterfragen oft ihre eigene Position. Selbst wenn sie das Kind unterstützen, überlegen sie: Was habe ich eigentlich geschafft? Einerseits wollen sie das Beste für ihr Kind, andererseits fordern die Eltern von den Kindern, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, womit sie meinen: Bleib bitte so wie wir.
ZEIT Campus: Wie geht man damit um, wenn die Eltern sich so verhalten?
Maschmann: In meiner Forschung habe ich beobachtet, dass manche Bildungsaufsteiger:innen versuchen, die Familie mitzunehmen, indem sie ihnen Bildungsangebote machen. Zum Beispiel haben manche Kinder ihren Eltern eine überregionale Zeitung geschenkt, damit man mehr gemeinsame Themen hat.
ZEIT Campus: Das klingt schwierig. In so einem Geschenk könnte mitschwingen, dass man die Eltern für zu ungebildet hält. Maschmann: Ja, aber der Bildungsunterschied ist ja genau das, worum es geht. Den spüren Eltern und Kinder sowieso dauernd unbewusst. Und ob die Bemühungen der Kinder, eine Brücke zu schlagen, funktionieren, hängt davon ab, wie sich die Familienmitglieder selbst verorten. Wenn ein hoher Milieustolz besteht, bei dem man sich bewusst gegen "die da oben" abgrenzt, kann das schwer werden. Wenn sie eher offen eingestellt und neugierig sind, kann das gut funktionieren. Vielleicht kommen sie mal mit in die Universität und sind bereit, sich die "andere Welt" anzuschauen. Oder sie informieren sich. Zum Beispiel bei uns. Neulich meldete sich eine Mutter, die sagte: ‘Ich konnte selbst nicht studieren, weil meine Eltern das nicht wollten. Nun will ich aber meiner Tochter helfen. Was kann ich tun?’
Sprache und Kleidung
ZEIT Campus: Und wenn es Streit gibt?
Maschmann: Oft werden die Vorwürfe nicht konkret ausgesprochen. Neulich habe ich mit einem Juristen gesprochen, der früher gefördert wurde. Da haben die Eltern gesagt: ‘Ja, Jura ist toll. Aber wenn du eine Ausbildung machst, bekommst du ein Fahrrad.’ Wenn es doch eskaliert, werfen die Eltern ihrem Kind so etwas vor wie: ‘Du machst ja gar nichts Vernünftiges’ oder ‘Du liest ja nur die ganze Zeit’ oder ‘Wann bist du denn endlich mal fertig mit der Schule?’
ZEIT Campus: Was werfen die Kinder ihren Eltern vor?
Maschmann: Meist werfen sie ihren Eltern nicht viel vor. Solange die Familie der Bezugspunkt bleibt, sind die Kinder eher damit beschäftigt, das Verhältnis auszugleichen.
ZEIT Campus: Wie tun sie das?
Maschmann: Das geschieht unter anderem durch Sprache oder Kleidung. Eine Person hat mir beispielsweise erzählt, dass sie mit einem alten Freund vom Dorf immer versucht wieder so zu sprechen wie früher, also nicht akademisch. Dahinter steht der Wunsch, nicht als "anders" aufzufallen. Auch wenn es eine Fremdzuschreibung ist, gibt es natürlich ein Bild, wie ein:e Akademiker:in aussieht und spricht.
„Der Druck, das Studium zu schaffen, ist oft sehr groß” – Tina Maschmann
ZEIT Campus: Wo liegt das größte Problem für Bildungsaufsteiger:innen in Bezug auf ihre Eltern?
Maschmann: Es geht oft um die Finanzierung, Unterstützung sowie um fehlendes Verständnis. Ein ganz banales Beispiel: Man schreibt bei einer Juraklausur neun Punkte, und die Eltern können gar nicht einordnen, wie gut das eigentlich ist.
ZEIT Campus: Man muss also permanent vermitteln.
Maschmann: Ja, genau. Beide Seiten müssen sich für das, was sie tun, rechtfertigen. Dabei spielt auch eine unterschiedliche Idee von Arbeit eine Rolle. Wer körperlich hart arbeitet, hat wenig Bezug zu einem Job, in dem man nur liest und schreibt. Dann kommt schnell der Vorwurf, dass man nichts Vernünftiges macht und auch noch kein Geld verdient im Studium.
ZEIT Campus: Welche Auswirkung hat das auf die Betroffenen?
Maschmann: Der Druck, das Studium zu schaffen, ist oft sehr groß, weil viel mehr davon abhängt. Meistens sind die Betroffenen hart zu sich selbst. Ihre Bewältigungsstrategie ist häufig, dass sie mehr leisten, als nötig wäre. Gerade weil sie nicht wissen, was im neuen Umfeld gefordert wird. Die finanzielle Investition für das Studium kommt dann auch noch dazu. Geld, das man seinen Eltern oder eventuell dem Staat
zurückzahlen muss.
ZEIT Campus: Kann ein Bildungsaufstieg auch ein Risikofaktor für psychische Krankheiten sein?
Maschmann: In Familien, in denen ein krasses Arbeitsethos herrscht, passiert es schnell, dass Bildungsaufsteiger:innen sich auch im akademischen Leben total überarbeiten. Unter gewissen Umständen kann das zu psychosomatischen Problemen wie Burn-out, Depressionen, Essstörungen und Identitätskonflikten führen. Verstärkt wird diese Überlastung durch das Gefühl, zwischen zwei Welten festzuhängen: Einerseits stellen Kinder ihre Eltern infrage – andererseits versuchen sie weiterhin, Gemeinsamkeiten zu schaffen. Entscheidend ist die Frage, wie die Betroffenen gelernt haben, mit Krisen umzugehen. Ob sie Hilfe in Anspruch nehmen oder ein Einzelkämpfer-Selbstverständnis haben.
ZEIT Campus: Wie können Eltern ihre Kinder im Zuge eines Bildungsaufstiegs unterstützen?
Maschmann: Oft fehlen den Eltern die fachlichen Kompetenzen, um im Studium zu helfen. Sie können aber dabei unterstützen, Angebote zu finden und ihre Kinder dazu ermutigen, diese auch wahrzunehmen. Jede Hochschule hat eine Studienberatung und die meisten haben auch eine psychosoziale Beratungsstelle. Dort kann man sich immer melden.
ZEIT Campus: Und außerhalb von Universitäten?
Maschmann: Besonders wichtig ist die Unterstützung von außen. Das kann ein:e ermutigende:r Lehrer:in sein, ein Mentoring-Programm oder auch ein Sportverein. Es geht darum, ein Netzwerk zu finden, das abpuffert, was in der Familie nicht vorhanden ist.
ZEIT Campus: Hat sich die Situation für Bildungsaufsteiger:innen in den vergangenen Jahren in Deutschland verbessert?
Maschmann: Wenn man bedenkt, dass für 2024 eine Haushaltskürzung für Bildungsausgaben geplant ist, würde ich sagen: nein. Von diesen Kürzungen kann auch das Bafög betroffen sein, was zu mehr Unsicherheit darüber führen würde, ob man sich ein Studium überhaupt leisten kann.